Chemikalien: Die EU hat ein Regulierungsproblem
Eine Übernahme der EU-Umweltnews des DNR:
Gesundheitsgefahr durch gefährliche Chemikalien? Warten Sie zehn Jahre!
Schneckentempo bei Schutzmaßnahmen, Turbotempo bei Chemikalieneinsatz – das Europäische Umweltbüro (EEB) hat Anfang der Woche kritisiert, dass die EU zehn Jahre braucht, um den Einsatz von gefährlichen Chemikalien zu stoppen. 15 Jahre nach Inkrafttreten der modernen EU-Chemikaliengesetze haben die Behörden immer noch keine Ahnung haben, ob die meisten der 100.000 heute verwendeten Chemikalien eine Gefahr darstellen. Zudem täusche die Industrie die Aufsichtsbehörden „systematisch über ernste Gesundheitsrisiken“. Dies geht aus der bisher umfassendsten Überprüfung des EU-Regelungstempos, einem 77-seitigen Bericht mit dem Titel Need for Speed - Why it takes the EU a decade to control harmful chemicals and how to ensure more rapid protections vom EEB, hervor. Schlupflöcher, Verzögerungen und überzogene Analysen hätten dazu geführt, dass Tausende von giftigen Chemikalien in Verbraucher*innen- und andere Produkte geflossen sind – Jahre nachdem die Behörden erkannt hätten, dass diese wahrscheinlich Krebs, Unfruchtbarkeit und andere schwere Schäden verursachen, so das EEB.
Das EEB hat untersucht, wie lange es dauerte, bis 1.109 Chemikaliendossiers die beiden wichtigsten EU-Chemikalienverordnungen seit 2007 durchliefen, beziehungsweise, ob sie anhängig sind. Dabei wurde festgestellt, dass die EU-Gesetze von Anfang an gebrochen werden, so dass die Behörden gezwungen sind, Chemikalien innerhalb von nur drei Wochen auf dem Markt zuzulassen, ohne auch nur ein grundlegendes Verständnis für ihre Gefahren zu haben. Die betroffenen Behörden benötigten dann etwa ein Jahrzehnt, um genaue Daten zu erhalten und Kontrollmaßnahmen zu begründen – ein Prozess, den die Industrie regelmäßig vor Gericht anfechte. EEB-Chemikalienexpertin Tatiana Santos sagte, die Kontrolle gefährlicher Chemikalien in der EU sei zu langsam und müsse schneller werden. Die Industrie trage die Hauptschuld, weil sie „die tatsächlichen Gefahren ihrer Produkte verschweigt und das System so lange wie möglich austrickst“. Aber die Beamten „frieren regelmäßig die Schutzmaßnahmen ein, ohne Begründung oder Erklärung, oder aufgrund endloser Diskussionen und einer ‚Paralyse durch Analyse‘.“ Das EEB stellte außerdem fest:
Empfohlene Kontrollmaßnahmen für fast die Hälfte (45 Prozent) von 192 Chemikaliendossiers, die als gefährlich eingestuft wurden, lägen auf Eis, in einem Fall sogar 13 Jahre lang.
Entscheidungen zur Beschränkung chemischer Stoffe hätten sich verlangsamt, und zwar von 1,9 pro Jahr unter dem früheren europäischen Regulierungssystem auf 0,9 pro Jahr unter den derzeitigen EU-Vorschriften.
Auch die schrittweise Abschaffung besonders besorgniserregender Stoffe (SVHC) laufe nicht wie geplant. Von den angestrebten 1.400 Stoffen, die bis zum Jahr 2020 aus dem Verkehr gezogen werden sollten, seien gerade einmal 224 auf die schwarze Liste gesetzt worden – in diesem schleppenden Tempo dürfte das Prozedere weitere 73 Jahre in Anspruch nehmen.
Nur wenige Unternehmen hätten jemals den Marktzugang verloren oder seien wegen der Angabe irreführender Gefahrendaten zu einer Geldstrafe verurteilt worden, obwohl die Kosten für die öffentliche Gesundheit im Zusammenhang mit der chemischen Verschmutzung enorm seien.
Im Herbst soll die Chemikalienpolitikreform starten, EEB fordert automatische Verbote als Standardoption
Das EEB hofft, dass die anstehenden Regulierungsreformen der EU-Chemikalienpolitik im Herbst besseren Gesundheits- und Umweltschutz in den Fokus nimmt. Die Reform wurde in der 2020 vorgelegten Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit als Teil des Europäischen Green Deals angekündigt (EU-News 15.10.2020). Der Umweltdachverband fordert unter anderem strenge Fristen, neue Befugnisse zur Aussetzung der Verwendung von Chemikalien, wenn die Fristen nicht eingehalten werden, niedrigere Hürden für die Vereinbarung neuer Schutzmaßnahmen und automatische Verbote als Standardoption für Gruppen der gefährlichsten Chemikalien in Konsumgütern. Die EU-Kommission wolle in den kommenden Wochen eine neue Studie veröffentlichen, so das EEB. Diese werde zeigen, dass 1.300 Chemikalien, die in Europa in einer Menge von 23 Millionen Tonnen pro Jahr verwendet werden, mit Krebs, Unfruchtbarkeit, Entwicklungsstörungen bei Kindern und anderen schwerwiegenden gesundheitlichen Auswirkungen in Verbindung gebracht werden. Diese sollen in den kommenden Jahren aus den Produkten verbannt werden. Das hatte die EU-Kommission auch Ende April in einem Fahrplan angekündigt (EU-News 27.04.2022).
Und sonst?
Die Europäische Chemikalienbehörde ECHA scheint das umstrittene Herbizid Glyphosat weiterhin als „nicht Krebs erregend“ einstufen zu wollen, meldete der Umweltinformationsdienst ENDS Europe am Dienstag.
Und das Pesticide Action Network (PAN) Europe hat beim Europäischen Gerichtshof Klage eingereicht, um die „systematische“ Verlängerung der Zulassung giftiger Pestizide ohne erneute Bewertung zu beenden. In diesem Fall geht es um die sechste Verlängerung der Zulassung von Dimoxystrobin.