Giftfreie Zukunft bisher nur auf dem Papier
Eine Übernahme der EU-Umweltnews des DNR:
Ein Jahr nach der Veröffentlichung ihres Fahrplans zur Beschränkung gefährlicher Chemikalien attestieren Europäisches Umweltbüro (EEB) und ClientEarth der EU-Kommission das Scheitern des Vorhabens. Am 25. April 2022 habe die EU-Kommission mit großem Medienecho angekündigt, rasch Tausende der berüchtigtsten Chemikalien in Konsumgütern oder schädlichen Flammschutzmitteln zu verbieten, um Unfruchtbarkeit, schwere Krankheiten und Umweltschäden zu verhindern. Insgesamt könnten im Rahmen des Fahrplans bis 2030 bis zu 7.000 Chemikalien verboten werden - ein gewaltiger Fortschritt, leider mit vielen Schlupflöchern.
Besteht die EU-Vision für eine giftfreie Zukunft nur aus leeren Worten?
Die Jahresbilanz von ClientEarth und EEB zeigt ein ganz anderes Ergebnis. Die EU-Beamten hätten planmäßig Verbote für 14 Chemikaliengruppen vorgelegt. Zwei davon seien stark und umfassend genug, um die meisten Schäden zu verhindern. Elf andere Gruppen deckten nur eine kleine Anzahl von Chemikalien oder deren Verwendungen ab, so dass der Großteil der Umweltverschmutzung und ihrer Auswirkungen weiterhin möglich sei, während eine weitere Gruppe „überflüssig“ ist. Bei den meisten Dossiers handele es sich bisher um Entwürfe, die noch verbessert werden könnten. In ihrer jetzigen Form dürften jedoch Hunderttausende von Tonnen giftiger Stoffe pro Jahr dem Verbot entgehen. Die Versäumnisse im Detail:
Nur fünf der 148 Bisphenole sollen eingeschränkt werden, die meisten Verwendungszwecke des umstrittenen BPA werden weiterhin möglich sein, dabei hat die Europäische Behörde für Lebenmittelsicherheit EFSA BPA als bedenkliche Gesundheitsgefahr bezeichnet und eine Senkung des täglichen Aufnahmewertes um 20.000 gefordert;
wegen eines rechtlichen Schlupflochs könnten durch Jagdaktivitäten weiterhin Tausende von Tonnen hochgiftiger Bleimunition in die Umwelt gelangen;
die Gefahr durch sehr bedenkliche Chemikalien in Babywindeln bleibe bestehen, weil die Kommission trotz Expertenrats ein Verbot abgelehnt habe;
gesetzliche Fristen würden in fast allen Fällen, manchmal jahrelang, nicht eingehalten, Ausnahmevorschläge für die Dauer von bis zu 12 Jahre seien üblich;
der Ressourcenmangel der Behörden werde verschärft, weil mehrere sich überschneidende Beschränkungen ausgearbeitet oder weniger wichtige Substanzen geregelt werden.
Aus Sicht der Organisationen seien dafür einerseits der "Proteststurm" und die Lobbyarbeit der chemischen Industrie verantwortlich, immerhin der viertgrößte Industriezweig der EU. Schuldig sei aber auch die EU-Kommission selbst, die ihrer rechtlichen Verpflichtung und Befugnis, für umfassende und schnelle Verbote zu sorgen, nicht nachkomme. Die Grenzen der chemischen Verschmutzung seien aber bereits überschritten. Die Chemieproduktion sei seit 1950 um das 50-fache gestiegen und werde sich den Prognosen zufolge bis 2050 weltweit noch einmal verdreifachen. [Zum Weiterhören: DNR-Podcast Umwelt aufs Ohr]
ChemSec: Strategische Autonomie ohne „ahnungslose Dummheit”
Die Organisation ChemSec wiederum bescheinigte der Chemikalienindustrie am 24. April eine „entscheidende Rolle, um die EU weniger verwundbar zu machen“ und größere Unabhängigkeit zu erreichen. Es gehe nicht nur um russisches Gas, alle Wertschöpfungsketten, bei denen der europäische Markt in erheblichem Maße von Drittländern abhänge, seien Gegenstand von Diskussionen über strategische Autonomie. Von der chemischen Industrie kämen deshalb auch viele Vorschläge für die Kreislaufwirtschaft durch Recycling und Wiederverwendung von in der EU hergestellten Materialien. ChemSec warnte allerdings harsch: „Eine Kreislaufwirtschaft mit toxischen Stoffkreisläufen ist keine strategische Autonomie, das ist einfach nur ahnungslose Dummheit“. Giftige Substanzen müssten aus Produkten generell verbannt werden. Es sei besorgniserregend, dass die EU-Kommission derzeit noch kein Konzept für die europäische Chemikaliengesetzgebung vorgelegt habe. Die Integration einer chemischen Perspektive sei für die strategische Autonomie aber unvermeidlich, damit die Chemieindustrie ihren Teil zur Schaffung eines unabhängigeren Europas beitragen könne. [jg]