Menschen in der EU sind nach wie vor zahllosen schädlichen Chemikalien ausgesetzt
Eine Übernahme von WECF.
Brüssel, München 25. April 2023
Vor genau einem Jahr kündigte die Europäische Kommission an, so schnell wie möglich tausende gefährliche Chemikalien, die immer noch in Konsumgütern vorzufinden sind und zu wachsender Unfruchtbarkeit, schweren Krankheiten und Umweltschäden führen, zu verbieten. Das Medienecho dazu war groß.
Am 25. April 2022 veröffentlichte die EU-Kommission einen vielversprechenden Fahrplan, der ein Verbot der schädlichsten Chemikalie versprach, als da u.a. wären: Flammschutzmittel, Chemikalien, die häufig mit Krebs in Verbindung gebracht werden und in den meisten Haushalten vorhanden sind; alle Bisphenole, die die menschliche Fruchtbarkeit stark beeinträchtigen und mit denen die meisten Europäer*innen täglich in Kontakt kommen; und alle nicht essentiellen PFAS (“Ewigkeitschemikalien”). Weiter sollten rund 2.000 gefährliche Chemikalien, die nach wie vor in Babywindeln, Schnullern und Kinderpflegeprodukten vorzufinden sind, verboten werden. Eine wesentliche Verbesserung im Vergleich zu vorherigen Regulierungen sollte die Beschränkungen von ganzen Chemikaliengruppen sein, um so die strategische “Auswechsel-Taktik” der Industrie, also regulierte Stoffe gegen geringfügige andere, nicht regulierte Stoffe austauschen, zu unterbinden. Insgesamt könnten im Rahmen des vorgestellten Fahrplans bis 2030 bis zu 7.000 Chemikalien verboten werden – ein gewaltiger Fortschritt gegenüber den 2.000, die die EU in den letzten 14 Jahren schrittweise aus dem Verkehr gezogen hat, mehr als in jeder anderen Region in der Welt.
Ein „Fortschrittsbericht“ (April 2023), der heute von den Umweltgruppen ClientEarth und dem Europäischen Umweltbüro (EEB), bei dem Women Engage for A Common Future, WECF, Mitglied sind, veröffentlicht wurde, zeigt jedoch ein ganz anderes Ergebnis.
Dossiers zum Verbot von 14 Chemikaliengruppen wurden planmäßig eingebracht. Zwei sind stark und umfassend genug, um die meisten Schäden zu verhindern. Elf weitere Gruppen decken nur eine kleine Anzahl von Chemikalien oder deren Verwendung ab, so dass die überwiegende Mehrheit der Verschmutzung und ihrer Auswirkungen fortbesteht; eine andere Gruppe ist überflüssig. Bei den meisten Dossiers handelt es sich um einen Entwurf, der noch geschärft werden könnte. Aber so wie es aussieht, werden Hunderttausende Tonnen giftiger Substanzen pro Jahr den Verboten entgehen.
Bemerkenswerte Misserfolge:
Nur fünf der 148 Bisphenole sollen eingeschränkt werden. Somit bleiben Dutzende von Stoffen, die bekanntermaßen für den Menschen schädlich sind, unkontrolliert. Die meisten Verwendungszwecke des umstrittenen BPA sollen weiterhin bestehen bleiben. Letzte Woche gab die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) bekannt, dass Durchschnittseuropäer*innen unsicheren BPA-Werten ausgesetzt sind, und forderten eine Senkung der täglichen Aufnahmemenge um 20.000.
Ein Schlupfloch wird es Jägern wahrscheinlich erlauben, weiterhin Tausende von Tonnen hochgiftiger Bleimunition in die Umwelt zu schießen.
Die Bedrohung durch "sehr schlimme" Chemikalien in Babywindeln wird fortbestehen, nachdem die Kommission ein Verbot dieser abgelehnt hatte, entgegen des Rat ihrer Expert*innen.
Im Allgemeinen wurden nur langsame Fortschritte erzielt, da die gesetzlichen Fristen in fast allen Fällen, manchmal jahrelang, nicht eingehalten wurden und Ausnahmeregelungen für einen Zeitraum von bis zu 12 Jahren vorgeschlagen wurden, was zu regelrechten "Regulierungsferien" führte.
Die Behörden leiden unter Ressourcenmangel, verschwenden diese aber, indem sie mehrere sich überschneidende Beschränkungen entwickeln oder sich auf marginale Stoffe konzentrieren.
Die Herausgeber*innen des „Fortschrittsberichts“ machen dafür die Lobbyarbeit der chemischen Industrie verantwortlich, dem viertgrößten Industriezweig der EU, der nach Angaben der Kommission zu den umwelt-, energie- und ressourcenintensivsten gehört. Die Industrie hat einen "Proteststurm" gegen frühe Entwürfe des Fahrplans ausgelöst. Die größte Schuld sei jedoch den Offiziellen und Beamt*innen zuzuweisen, insbesondere der Europäischen Kommission. Sie hat eine rechtliche Verpflichtung, ein neues und starkes politisches Mandat und die Befugnis, für umfassende und schnelle Verbote zu sorgen, lässt aber eine langsame und schwache Regulierung zu und trägt sogar zu dieser bei.
Johanna Hausmann, WECF: „Der Bericht unserer Kolleg*innen zeigt, dass es auch nach einem Jahr Mensch und Umwelt der dramatischen Belastung durch zahllose schädliche Chemikalien schutzlos ausgesetzt sind. Geschützt wird eine Industrie, die einen großen Teil ihres Profits auf Kosten unserer Gesundheit und der unserer Kinder macht, sowie auf Kosten der Umwelt. Das muss sich ändern, wenn man die wirklich gute Ambition, die die Kommission mit der Restriction Roadmap gezeigt hat, retten möchte.“
Hélène Duguy, ClientEarth: "Seit Jahren beobachten wir, wie der Ansatz der EU scheitert, schädliche Chemikalien stückchenweise zu verbieten. Dieser Ansatz bedeutet, dass die Menschen und unsere Umwelt nicht vor den schädlichsten Chemikalien geschützt sind. Das muss sich jetzt ändern - die europäischen Behörden und die EU-Kommission verfügen über alle rechtlichen Mittel, um diesen Fahrplan zu retten und eine deprimierende Entwicklung zu korrigieren."
Dolores Romano, EEB: “Wir haben die Grenzen der chemischen Verschmutzung überschritten. Unsere Umwelt, unser Trinkwasser, unsere Lebensmittel, unsere Häuser und Besitztümer enthalten immer größere Mengen gefährlicher synthetischer Chemikalien, die mit Allergien, Krankheiten und Unfruchtbarkeit in Verbindung gebracht werden, sowohl beim Menschen als auch in der Natur. Europa hat eine inspirierende Vision für eine giftfreie Zukunft. Sind das leere Worte?"
Die Chemieproduktion ist seit 1950 um das 50-fache gestiegen und wird sich bis 2050 voraussichtlich noch einmal verdreifachen. Die Europäische Umweltagentur machte letztens auf die zunehmenden Hinweise, dass die Europäer*innen unter den gesundheitlichen Folgen der chemischen Verschmutzung leiden, aufmerksam und warnte davor. Offizielle öffentliche Umfragen im Jahr 2019 ergaben, dass fast alle Europäer*innen über die Auswirkungen von Chemikalien in Alltagsprodukten auf die Umwelt besorgt sind.
Den Bericht können Sie hier einsehen: https://www.clientearth.org/latest/documents/a-roadmap-to-nowhere