Warum Gender bei der Bekämpfung der chemischen Verschmutzung wichtig ist
Original: Why gender matters for addressing chemicals pollution
Wang, M., Balayannis, A., Rother, H.-A., Hemmati, M., Holthaus, A. & Zeidler, V. Z. (2024)
Erschienen in: The Lancet Planetary Health. Volume 8, Issue 9, Page e611
https://doi.org/10.1016/S2542-5196(24)00176-1
Übersetzt von Tom Kurz
In einer Zeit, in der Chemikalienmanagement und Governance ganz oben auf der wissenschaftlichen und politischen Agenda stehen, fordern wir die wissenschaftliche Gemeinschaft auf, die Geschlechterfrage in die Forschung zur chemischen Verschmutzung einzubeziehen. Es ist seit langem bekannt, dass der Umgang mit Chemikalien unzureichend ist und negative Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch und Umwelt hat.
Die Anzahl und Vielfalt der verwendeten Chemikalien nimmt zu; der Weltmarkt für Chemikalien wird sich bis 2030 voraussichtlich verdoppeln. Die zunehmende Produktion und Nutzung neuer Chemikalien übersteigt bei weitem die Geschwindigkeit der Sicherheitsbewertungen und der chemischen Regulierungsverfahren. Daher wird derzeit im Rahmen der UN-Umweltpolitik ein neues zwischenstaatliches Gremium für Wissenschaft und Politik in Bezug auf Chemikalien, Abfälle und die Vermeidung von Umweltverschmutzung verhandelt. Wir argumentieren, dass die Arbeit dieses Gremiums sich mit den ungleichen und differenzierten Schäden durch Chemikalien, insbesondere im Hinblick auf die Geschlechter auseinandersetzen muss. Bei der Extrapolation von Daten aus Tierversuchen wird für die Expositions- und Risikobewertung nach wie vor der durchschnittliche europäische Mann mit durchschnittlichem Körpergewicht und durchschnittlicher Körpergröße herangezogen. Diese Daten bilden dann die Grundlage für Risikokriterien, Politik und Gesetzgebung. Folglich sind Lösungen oft unwirksam, insbesondere für Personen, die geschlechtsspezifische und rassifizierte chemieintensive Arbeiten verrichten, wie z. B. Reinigungsarbeiten in Haushalten und landwirtschaftliche Arbeiten. Einfach ausgedrückt, unsere Wissenssysteme für das Verständnis, den Umgang und die Regelung von Chemikalien weisen systemische Lücken auf, die strukturelle Ungleichheiten verstärken.
Die Integration von Gender bietet die Möglichkeit, eine solidere Forschung und faktengestützte Politiken zur chemischen Verschmutzung zu entwickeln, als derzeit verfügbar sind. Erstens können durch die Erhebung geschlechts- und genderspezifisch aufgeschlüsselter Ausgangsdaten unterschiedliche Expositionswege und gesundheitliche Auswirkungen genauer identifiziert werden, um informierte geschlechtsspezifische politische Empfehlungen und Interventionen zuarbeiten. Zweitens kann die Einbeziehung des Geschlechts in die Forschung Fragen der Macht in den Vordergrund rücken und dazu einladen, neu zu überdenken, welche Stimmen und Formen des Wissens in der Forschung und in der Politik Gewicht haben. Die Konventionen von Basel, Rotterdam und Stockholm bieten Anhaltspunkte dafür, wie Gender an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik effektiv integriert werden kann. Drittens erleichtert die Integration von Gender eine stärkere epistemische Verknüpfung von öffentlicher, umweltbezogener, beruflicher, globaler und planetarischer Gesundheit, indem fragmentierte Problembereiche überwunden werden. Mit anderen Worten: Ein geschlechtsspezifischer Ansatz ermöglicht es uns zu erkennen, dass Umweltverschmutzung nicht nur ein Umweltproblem ist und daher eine Zusammenarbeit über die disziplinären Silos hinaus nötig ist, um wirksam angegangen zu werden.
Die Einbeziehung der Geschlechterperspektive hat kürzlich im neuen Globalen Rahmenwerk der Vereinten Nationen für Chemikalien hohe Priorität erhalten, und das Büro des High-Commissioner für Menschenrechte hat Beiträge zu diesem Thema veröffentlicht. Wir schreiben als Reaktion auf diese Entwicklungen und ermutigen unsere wissenschaftlichen Gemeinschaften, sich dieser Herausforderung zu stellen.
Wir erklären, dass wir keine konkurrierenden Interessen haben.
Foto von IISD/ENB | Diego Noguera