Pestizide in der Landwirtschaft – was wir nicht wissen, schadet uns nicht?

Eine Übernahme von PAN-Germany.

Tausende Tonnen Pestizide werden jedes Jahr in der EU verkauft. Aber wie viel, wie oft, wo und welche Pestizide in der Lebensmittelproduktion tatsächlich eingesetzt werden, wird nicht veröffentlicht. Dieses Defizit birgt ein Risiko für die öffentliche Gesundheit und die Umwelt aller EU-Bürger*innen.  Derzeit wird über einen Gesetzesvorschlag für eine Reform der Erhebung und Veröffentlichung von Agrarstatistiken debattiert. Ob damit mehr Transparenz geschaffen wird, hängt nun maßgeblich davon ab, ob das EU Parlament sich für den ehrgeizigen Vorschlag der EU Kommission ausspricht. Unter Federführung von Client Earth wurde eine gemeinsame NGO-Position mit detaillierten Empfehlungen formuliert und den Abgeordneten vorgelegt.

Fehlendes Wissen

Landwirt*innen müssen Aufzeichnungen über ihren Pestizideinsatz führen, aber die zuständigen Behörden erheben die Daten nicht systematisch. Dadurch entsteht ein blinder Fleck. Andere, wie Anwohner*innen von landwirtschaftlichen Flächen, haben keinen Zugriff auf die Daten und kein Recht auf Informationen. Auch Zuständige der Trinkwassersicherheit wissen nicht, wie viel von einem bestimmten Produkt oder welche Pestizid-Wirkstoffe in ihrem Einzugsgebiet verwendet wurden. Wer spezifische Informationen haben möchte, kann Auskunftsersuchen bei der lokalen Behörde stellen, sollte aber auch Zeit und Mittel verfügen, um vor Gericht zu klagen. In Baden-Württemberg müssen nach einer Klage der Landeswasserversorgung und des NABU nach dem Entscheid des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim Pestizid-Anwendungsdaten der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Ein erster wichtiger Schritt, allerdings erst in einem Bundesland Deutschlands.

Was für Pestizide gilt, gilt auch für andere Chemikalien, die in großem Umfang in der Landwirtschaft verwendet werden, wie Biozide und Tierarzneimittel. Biozide sind im Gesetz definiert als Chemikalien, die „mit der Absicht verwendet werden, Schadorganismen zu zerstören, abzuschrecken, unschädlich zu machen, die Einwirkung von Schadorganismen zu verhindern oder auf andere Weise eine kontrollierende Wirkung auszuüben“. Mit anderen Worten, sie wirken wie Pestizide und können die gleichen giftigen Wirkstoffe enthalten, sie werden aber nicht im Pflanzenschutz, durchaus aber in anderen Bereichen der Landwirtschaft und darüber hinaus eingesetzt.

Arzneimittel, die in der Nutztierhaltung eingesetzt werden, gelangen über die Ausscheidungen der behandelten Tiere mit Gülle und Mist und über die Abluft in die Umwelt. Die aktiven Substanzen belasten Böden und Gewässer und können Mikroorganismen, Insekten, Fische und Pflanzen schädigen. Für viele Arzneimittelwirkstoffe liegen keine oder unzureichende Daten zu ihren Umweltrisiken vor. Um die Belastungssituation möglichst umfangreich darzustellen, ist es wichtig, dass nicht nur Antibiotika sondern alle in der Tierproduktion eingesetzten Tierarzneimittel und Biozide in der statistischen Erhebung berücksichtigt werden.

Weitreichende Konsequenzen

Pestizide dürfen in der EU erst zum Einsatz kommen, nachdem sie von den Behörden auf EU- und nationaler Ebene grünes Licht erhalten haben. Genehmigungen basieren auf wissenschaftlichen Bewertungen der Risiken für die menschliche Gesundheit und die Umwelt. Diese Bewertungen beziehen sich auf Studien, aber auch auf Annahmen, insbesondere darauf, wie Pestizide wahrscheinlich unter „realistischen Bedingungen“ eingesetzt werden. Um sicherzustellen, dass die vorgesehenen „realistischen Bedingungen“ wirklich realistisch sind, ist ein Überblick darüber wichtig, was wann, wo und in welchen Mengen tatsächlich verwendet wird. Deshalb schreibt das Gesetz den Landwirt*innen bereits vor, solche Aufzeichnungen zu führen. Da aber diese Daten weder gesammelt noch veröffentlicht werden, ergibt sich eine Lose-Lose-Situation für alle Beteiligten.

Die ersten Verlierer sind die Landarbeiter*innen an vorderster Front. Die reale Exposition gegenüber Pestiziden kann erhebliche Auswirkungen auf ihre Gesundheit haben – aber niemand, nicht einmal die Behörden verfügen über eine Datenaufbereitung, um solche Trends erkennen zu können.

Auch die Umwelt ist betroffen. Bienen, Vögel und andere Organismen können unter den Rückständen von Pestiziden, Bioziden und Tierarzneimitteln, die auf und in die Pflanzen, in die Luft, ins Wasser und in den Boden gelangen, geschädigt werden. Längst ist bekannt, dass der jahrzehntelange Einsatz von Pestiziden ein ausschlaggebender Faktor für den erheblichen Rückgang der Insektenpopulationen in Europa und den damit verbundenen Rückgang der Insekten-fressenden Vögel ist. Es ist jedoch schwer zu sagen, inwieweit und welche Pestizide insbesondere Schlüsselfaktoren sind, wenn nicht offengelegt wird, welche Pestizide, wo und wie verwendet werden.

Schließlich verliert der Agrarsektor selbst, wenn die Öffentlichkeit über den Einsatz von Pestiziden im Dunkeln bleibt. Landwirt*innen haben so keine Möglichkeit, ihre Bemühungen und Fortschritte für die notwendige Reduktion des Pestizideinsatzes nachzuweisen. Vielleicht hat sich der Verbrauch hochgefährlicher Pestizide reduziert oder nicht-chemische Lösungen für bestimmte Produktionen etabliert  – so oder so bleibt dies verborgen. Gewinner ist allein die Chemieindustrie, die ihre Produkte weiter verkaufen kann und es den lokalen Gemeinschaften überlässt, die Folgen zu tragen.

Der Status Quo ist nicht mehr tragbar  – mehr Transparenz über den Einsatz von Chemikalien in der Landwirtschaft ist im Interesse aller.

Was muss sich ändern?

Tatsächlich hat die Europäische Kommission die Defizite erkannt und Anfang 2021 einen ehrgeizigen Vorschlag zur Reform der Erhebung und Veröffentlichung von Agrarstatistiken vorgelegt. Aber um nicht an Schlagkraft zu verlieren, braucht der Vorschlag die Zustimmung des EU Parlaments und darf von den nationalen Landwirtschaftsministerien nicht geschwächt werden.

Gemeinsam mit 20 Umwelt- und Gesundheitsorganisationen und dem Bioverband IFOAM haben wir den Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die am 11. Oktober darüber abstimmen werden, detaillierte Empfehlungen vorgelegt.

Der vorgelegte Entwurf hat aber auch einen Nachteil. Mit der neuen Verordnung fallen andere weg, so auch die Pestizid-Statistik-Verordnung (EG) Nr. 1185/2009. Unklar bleibt, wie Verbrauchsstatistiken für andere Bereiche außerhalb der Landwirtschaft, z.B. auf Bahngleisen oder im Forst zukünftig erfasst werden. Außerdem werden weiterhin die meisten Biozidverwendungen in der EU und in Deutschland nicht statistisch erfasst. PAN Germany und die anderen NGOs fordern deshalb in dem Papier, schnellstens eine ergänzende Legislative zu implementieren, um diese seit langem bestehenden und neu geschaffenen Datenlücken für Pestizide und Biozide schnellstens zu schließen.

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