Chemikalienvielfalt
Positives Framing mit negativen Folgen
Chemikalien und andere neuartige Substanzen belasten Mensch und Umwelt. Die Anzahl der Chemikalien in der Umwelt überschreitet die planetaren Grenzen und überlastet die regulativen Rahmen, wenn es überhaupt welche gibt. Es besteht dringender Handlungsbedarf, den die internationale Staatengemeinschaft zum Teil erkannt hat und adressiert. Viele der Lösungen setzen jedoch nicht am Ursprung des Problems an: der Reduzierung der Vielzahl der Chemikalien. Für die chemische Industrie in Deutschland ist die Chemikalienvielfalt nämlich ein Zukunftsmodell.
Die Verschmutzung des Planeten mit Chemikalien, Plastik und weiteren sogenannten neuartigen Substanzen ist dritte große Umweltkrise der Zeit, neben dem Klimawandel und dem Verlust der Biodiversität. Die Krisen stehen miteinander in Wechselwirkung und verstärken sich gegenseitig. Lösungen für die Umweltkrisen können nicht isoliert betrachtet werden, sondern es braucht transdisziplinäre Ansätze. Dies ist mittlerweile auch die offizielle Leitlinie des Umweltprogramms der Vereinten Nationen. Auch wenn es noch weitere Aufklärung braucht und die dritte Umweltkrise, die Verschmutzung mit Chemikalien weltweit, noch nicht als solche gehandelt bzw. verstanden wird, sind wir doch auf einem guten Wege dahin. Der Abschluss eines neuen Globalen Rahmenwerks über Chemikalien im September 2023 in Bonn war hierfür ein wichtiger Schritt.
Chemikalienanzahl sprengt die planetaren Grenze
Wissenschaftler*innen gehen davon aus, dass sich mittlerweile ca. 350.000 verschiedene Chemikalien im Umlauf befinden. Im Jahr 2022 hat ein Team aus Forscher*innen diese Zahl mit einer Bestandsaufnahme aller weltweit registrierten Industriechemikalien ermittelt. Allein 70.000 dieser Stoffe wurden demnach im letzten Jahrzehnt registriert. Seit 1950 hat sich die chemische Produktion verfünfzigfacht! Die Menge der neuen Substanzen (novel entities) überschreitet die planetare Grenzen, so die Forscher*innen. Zu viele sind mittlerweile in die Umwelt gelangt, sei es über Abgase und Emissionen, Einleitungen in Wasser, Ausdünsten und Migrieren aus Produkten und in Form von Abfällen.
Die enorme Menge von Chemikalien belastet die Umwelt und überlastet die regulativen Rahmen, sofern diese überhaupt vorhanden sind. Weltweit haben etliche Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen kein Chemikalienmanagement. Doch auch Staatenverbünde wie die Europäische Union, die mit der REACH-Verordnung (Registration, Evaluation, Authorisation, and Restriction of Chemicals – Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung von Chemikalien) eine der weltweit schärfsten Chemikalienregulationen haben, weisen große Defizite auf. Das Forschungsprojekt Human-Biomonitoring für die EU hat nachgewiesen, dass alle Menschen in der EU unabhängig von ihrem Alter, einer Vielzahl von Chemikalien ausgesetzt sind, die auch im Körper nachweisbar sind. Quellen sind die Nahrung, der Arbeitsplatz und Konsumprodukte. Auch in der EU kann nicht von einem effektiven Schutz ausgegangen werden.
Die Menge ist nicht managebar
Die bisherigen Ansätze der Regulation und des Managements von Chemikalien tragen dem nicht genug Rechnung. Auch weil das Problem nicht in der Ursache adressiert wird. Derzeit wird vor allem versucht, die Exposition gegenüber den Menschen und den Weg in die Umwelt gering zu halten, sodass bestimmte Grenzwerte nicht überschritten werden. Besonders gefährliche Chemikalien sollen dabei verboten werden. Dies und die Festlegung von Grenzwerten erfolgt auf Basis wissenschaftlicher Beurteilungen, aber auch gesellschaftlichen Ausrichtungen und Debatten. Wenn jedoch bei einem weiteren prognostizierten Wachstum der Branche immer weitere neue Substanzen auf den Markt kommen, hinkt eine Bewertung und Regulierung zwangsläufig hinterher. Schwierig ist das Chemikalienmanagement auch, weil bei der Produktion von Chemikalien immer unintendierte Nebenprodukte oder Verunreinigungen entstehen. Diese können meist in Bewertung und Regulation der Fülle an Chemikalien nicht berücksichtigt werden.
Es bräuchte also Ansätze, die die Menge der zu managenden Chemikalien verringern. Maßnahmen, die wirklich zur Reduktion des Chemikalieneinsatzes und damit auch zur Reduktion der Produktion beitragen, wie bspw. die Förderung von nicht chemischen Alternativen in der Landwirtschaft, müssten viel mehr Vorrang bekommen. Dies ist jedoch nicht der geteilte Schluss. Im internationalen Rahmen, aber auch auf regionalen und nationalen Ebenen steht die Reduktion der chemischen Produktion nicht auf der politischen Agenda. Unter anderem auch, weil die chemische Industrie vor allem in Deutschland vermehrt die Vielfalt von Chemikalien zum Geschäftsmodell erklärt und dahin gehend lobbyiert.
Chemieindustrie in der Krise
Die chemische Industrie im Europa strauchelt. Wichtige Teile der Grundstoffindustrie sind mittlerweile abgewandert bzw. befinden sich auf dem Weg woanders hin. Besonders die USA, Indien und China sind zu wichtigen Standorten geworden, wo sogenannte Basischemikalien hergestellt werden. Basischemikalien sind solche, die aus Rohbenzin (Naphta), Erdgas und anderen Rohstoffen produziert werden. Sie stehen am Anfang der Produktions- und Wertschöpfungskette. Diese Chemikalien bilden den Grundstock für die Produktion nahezu aller weiteren Chemikalien. Laut dem Internationalen Pollutants Elimination Network (IPEN) zählen hierzu mindestens mindestens 37 Stoffe. Diese machen ca. 67 % des globalen Produktionsvolumens der chemischen Industrie aus.
Die Produktion von Basischemikalien ist zeitgleich die rohstoff- und energieintensivste Stufe der Produktion. Hinzu kommt: Die meisten chemischen Reaktionen benötigen hohe Temperaturen, folglich viel Energie. Und hier ist der Knackpunkt für den Produktionsstandort Deutschland, die Energiepreise sind enorm gestiegen ebenso wie die Preise für die Rohstoffe, also Rohbenzin und Erdgas. In anderen Teilen der Welt ist dies günstiger zu haben. Und teils dazu noch mit geringeren Umwelt- und Arbeitsschutzstandards. Bspw. boomt die Branche im Süden der USA, weil durch gefracktes Gas riesige Mengen an günstigen Rohstoffen vorhanden sind.
Auch Anforderungen für eine Klimaneutralität der Branche, die mit einem enormen Strom- und Wasserstoffbedarf sowie alternativen Kohlenstoffquellen einhergehen, sind ohne Frage Herausforderungen für die Chemiekonzerne.
Chemikalienvielfalt als vermeintliches Lösungsmodell
In Europa setzt die chemische Industrie vermehrt auch auf die Chemikalienvielfalt, um der Krise zu begegnen. Immer mehr Spezialchemikalien sollen innovative Lösungen ermöglichen. Der Verband der chemischen Industrie (VCI) wörtlich: „Chemikalienvielfalt, Chemikalienverfügbarkeit und Chemikaliensicherheit sind Grundvoraussetzungen für die Schaffung von Innovationen und den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der chemischen Industrie.“ Die Industrie argumentiert vielfach, dass ohne eine Vielzahl verfügbarer Chemikalien eine Transformation Europas im Sinne des Green Deals nicht möglich sei. Negative und gefährliche Eigenschaften sollten nicht zum Ausschlusskriterium für die Verwendung von Chemikalien werden.
Chemikalienvielfalt heißt aber nicht nur, dass viele spezielle Chemikalien für innovative Technologien zum Einsatz kommen, sondern auch beim Verbot von Stoffen schnell Ersatz zur Hand ist. Das Stichwort hierzu lautet regrettable substitution (bedauerlicher Ersatz). Wird ein Stoff verboten, wird dieser meist durch einen Stoff mit ähnlicher Strukturformel und Eigenschaften ersetzt. Als Beispiel sei hier die Nutzung von Bisphenol F genannt, das vielfach als Ersatz für Bisphenol A verwendet wurde. Bisphenol A wurde in der EU für Lebensmittelkontaktmaterialen verboten, weil es im Verdacht steht, das menschliche Hormonsystem zu schädigen. Der Ersatzstoff Bisphenol F steht dafür jedoch ebenso im Verdacht.
Damit eine Chemikalienvielfalt überhaupt möglich ist, fordert die Industrie eine starke Deregulierung. Nach der Veröffentlichung der europäischen Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit kritisierte der VCI, dass eine Umsetzung dieser und die angekündigte Überarbeitung der europäischen Chemikalienverordnung REACH die nötige Stoffvielfalt einschränken würde.
Vom Anfang her gedacht
Es ist richtig, dass wir bestimmte Chemikalien brauchen, um bestimmte Produkte überhaupt nutzen zu können. Auch für die Erreichung der Ziele der Agenda 2030 sind Chemikalien unerlässlich. Diese Chemikalien dürfen jedoch keine negativen Eigenschaften besitzen. Sie müssen so gestaltet sein, dass sie sich, auch wenn sie in die Umwelt gelangen, dort abbauen und nicht anreichern. Sprich: weder persistent noch sonderlich mobil sind. Unter dem Stichwort der grünen und nachhaltigen Chemie gibt es hier erste Ansätze, Chemikalien und Stoffe so zu designen, dass diese wenig bis keine negativen Auswirkungen haben. Vor allem braucht es aber eine übersichtliche Zahl an Chemikalien und keine riesigen Mengen.
Vor dem Hintergrund überschrittener planetarer Grenzen und einem überforderten regulativen Rahmen kommen wir jedoch nicht drum herum, die Menge der produzierten und verwendeten Chemikalien auf ein nachhaltiges Maß zu beschränken. Eine Chemikalienvielfalt ist keine Lösung, sondern hat in den letzten Jahrzehnten dazu beigetragen, dass die planetaren Grenzen überschritten und Chemikalien zur gewaltigen Umweltkrise wurden.
Dieser Artikel erschien zuerst im Rundbrief 3/2024 “Lieber im Boden als in der Luft? CCS als Marketing-Coup der fossilen Industrie.”